Dr. med. Heike Kramer verabschiedet sich aus dem Vorstand Eine Ära geht zu Ende
Dr. med. Heike Kramer war 13 Jahre lang Vorstandsmitglied, davon sieben Jahre als Vorsitzende der ÄGGF und prägte entscheidend die Arbeit unseres Vereins. Insgesamt konnte sie in 33 (!) Jahren ÄGGF-Mitgliedschaft in mehr als 5.000 ÄGGF-Veranstaltungen rund 100.000 Teilnehmenden wichtiges Wissen zu sexueller und reproduktiver Gesundheit vermitteln. Nun möchte die 65-Jährige sich aus der Vorstandsarbeit zurückziehen, um mehr Zeit für Familie und Freunde zu haben. Deshalb kandidierte sie zum Jahresende 2024 nicht erneut für den Vorstand, bleibt aber weiterhin ÄGGF-Ärztin. Bevor sich die vierfache Mutter aus ihrem Vollzeit-Ehrenamt zurückgezogen hat, haben wir ihr noch ein paar Fragen gestellt:
Wie bist du zur ÄGGF gekommen?
Bei der Hochzeitsfeier ehemaliger Studienkolleg*innen habe ich 1990 im Gespräch von der ÄGGF erfahren: Eine Freundin gehe als Ärztin zu Mädchen in Schulen und hätte dort jeweils 90 Minuten Zeit, über gynäkologische Themen zu sprechen, aufzuklären und Fragen zu beantworten. Es hieß: „Das kannst du dir ein bisschen vorstellen wie Dr. Sommer, aber im direkten Gespräch und vor allem viel seriöser und 100 x besser“. Ich war fasziniert von der Aussicht, so etwas machen zu können und bat um die Adresse der Freundin, die ich direkt am nächsten Tag anschrieb. So nahm das Schicksal seinen Lauf und im April 1991 wurde ich mit Haut und Haar jüngstes Mitglied der damals ca. 25-köpfigen ÄGGF, die sich noch Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau e.V. nannte.
Gibt es Begegnungen mit Heranwachsenden, die dir in besonderer Erinnerung geblieben sind?
Da laufen viele Filme aus den unzähligen Veranstaltungen ab, von zutiefst bedrückend bis überaus beglückend. Manches begleitet einen tagelang. Wie sehr Konventionen, Traditionen, Mythen, aber auch zunehmend Social Media Denken, Handeln, Selbstbestimmung und Selbstwertgefühl der Heranwachsenden zum Negativen beeinflussen, macht mich oft wütend und traurig. Doch die positiven Erlebnisse überwiegen, zum Beispiel:
...ganz verschämte Schülerinnen, die kaum wagen aufzuschauen und eine Frage zu stellen, dann aber immer näher rutschen mit ihren Stühlen und am Ende strahlen, offen schauen, intime Fragen stellen und sogar über persönliche Probleme oder Beschwerden sprechen.
...der Junge einer Klasse, die angeblich alles weiß und keinen Bedarf für ärztliche Info-Stunden sieht, der plötzlich vor allen fragt, was er machen soll, weil seine Vorhaut so eng ist und ein anderer, der wissen will, warum er nach der Selbstbefriedigung einen dumpfen Schmerz im Bauch hat und was wünschen sich Mädchen eigentlich beim Sex?
...die als schwierig angekündigte Klasse, die dann 90 Minuten intensiv zuhört, beim Gongschlag sitzen bleibt, spontan applaudiert und fragt, ob wir nicht weitermachen können, weil sie noch nie so spannenden Unterricht gehabt hätten.
Aber es sind auch immer wieder die bedrückenden Momente, wo sich später im Einzelgespräch Schüler*innen anvertrauen oder „für einen Freund/eine Freundin fragen“ zu Themen, die z.B. auf Übergriffe, negative sexuelle Erlebnisse oder ungeplante Schwangerschaften/Vaterschaften schließen lassen. Das ist schwer auszuhalten. Manchmal können wir dann Wege aufzeigen, wo sie sich weiter hinwenden können.
Gleichzeitig können in diesen Situationen Mythen wirksam entkräftet werden, wie z.B. dass das Hymen definitiv nicht beim Sport reißt und dann verlassen zwei Mädchen fröhlich hüpfend den Raum. Dann stellt sich das Gefühl ein, für diejenigen einen echten Unterschied gemacht zu haben und eine sehr sinnstiftende Arbeit ausüben zu dürfen.
Was möchtest du dem neuen ÄGGF-Vorstand aufgrund deiner Erfahrungen im Amt mit auf den Weg geben?
Geht weiter mutige Schritte und denkt immer mal quer, damit die ÄGGF wächst und neue Kommunikationskanäle erobert! Dabei sollten wir uns treu bleiben: Statt auf jeden Zug aufzuspringen, um dabei zu sein lieber unsere hochqualifizierte Basis und unser riesiges Know-how in die Waagschale werfen, unsere thematische Ausrichtung nicht aus den Augen verlieren und für die Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, Istanbul-Convention und Otawa-Charta zur Prävention eintreten. Nutzt das riesige Know-how, das in der ÄGGF vorhanden ist, getreu dem Motto: Wenn die ÄGGF wüsste, was die ÄGGF weiß! Und dann noch unbedingt Zeit für persönlichen Austausch haben, das Teamwork und die gemeinsamen Erfolge genießen und feiern. Und trotz vieler Aufgaben und Herausforderungen Familie und Freunde nicht vernachlässigen.
Und was wünschst du der ÄGGF für die Zukunft?
Ich wünsche der ÄGGF...
...dass sie noch viel bekannter wird und niemand mehr fragt: Äh….gg… was?????
...dass sie im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheitsbildung als DIE MARKE in Deutschland wahrgenommen wird, ähnlich wie o.b., Tesa oder Tempo in anderen Bereichen.
...dass die Politik die von uns geforderte Aufnahme der Sexuellen und Reproduktiven Gesundheit als Handlungsfeld im Präventionsgesetz zeitnah umsetzt.
...dass mehr Unternehmen und Organisationen den gesellschaftlichen und eigenen Benefit der ÄGGF-Arbeit erkennen und bereit sind, mutig in unsere Arbeit zu investieren.
...dass gleichzeitig noch viel mehr Ärzt*innen dem einzigartigen Spirit der ÄGGF verfallen, damit mehr ÄGGF-Ärzt*innen als vertrauensvolle und verlässliche Ansprechpartner*innen immer mehr junge Menschen auf dem Weg ins Erwachsenenalter begleiten, fördern und stärken können.
...dass die ÄGGF in ihrer Qualität, Quantität und Kontinuität so einzigartig bleibt, wie sie ist.
Ich sehe noch so viele neue Chancen für die Zukunft und freue mich, weiter mit an Bord zu sein.
Vielen Dank, liebe Heike, und alles Gute für dich!
Bildnachweis:
© Fotografschaft Erlangen, www.fotografschaft.com